Dienstag, 22. Oktober 2024

Just show up

Heute bin ich ziemlich müde aufgewacht und ich ahne bereits, dass das mit dem konzentrierten Schreiben eher nicht so klappen wird. Trotzdem setze ich mich vor den Computer und öffne ein leeres Dokument. Falls die Muse mich küssen möchte - ich wäre da. Das blieb mir als Tipp im Ohr von Autorinnen, die ich bewundere. "Just show up!" sagen sie. Sei einfach da. Jeden Morgen. Schreib einen ersten Satz. Und dann folgt vielleicht noch ein zweiter und wer weiß: vielleicht hast du am Ende eine Geschichte. Wenn nicht, dann leg nach einer Weile den Stift zur Seite oder schalte den Computer aus und sag dir: Ich hab's wenigstens versucht. Und morgen versuche ich es wieder.

Ich habe neulich darüber gelesen, dass Johann Sebastian Bach am Anfang seiner Kompositionen immer diese zwei Initialen geschrieben hat: J.J. Das steht für die lateinischen Wörter: Jesus.Juva. Jesus.Hilf.  Mein innerer Kritiker, der heute leider nicht müde sondern hellwach über meine Schulter schaut, verdreht die Augen: Willst du dich jetzt etwa mit dem Genie Bach vergleichen?  Ich versuche nicht auf ihn zu hören. Manchmal geht das am besten, wenn ich aufschreibe was er sagt, damit er sieht wie dumm das ist. Natürlich will ich mich NICHT mit Bach vergleichen, aber wenn dieses Genie vor seine ersten Töne ein "Jesus.Hilf." gesetzt hat, dann brauche ich das doch erst recht. Für mein Schreiben. Aber auch für mein ganzes Leben. Für jeden meiner Tage. Vielleicht sollte ich diese zwei Initialen auf unsere (frisch gestrichene) Schlafzimmerwand schreiben: J.J. Und mein Kind, das Lateingenie, rätseln lassen, was es bedeutet (was mich an seine kommende Klassenarbeit erinnert wozu ich aus tiefstem Herzen nur Jesus Juva! sagen kann).

Was eine bekanntere Sache ist (zumindest für Menschen, die als Kinder in seeehr langen Gottesdiensten mit klassischer Musik die Liedblätter studiert haben):  Bach hat unter seine einzelne Werke immer S.D.G. geschrieben hat. Soli deo gloria. Gott allein die Ehre. Und auch hier ruft mein hellwacher Kritiker gleich: Ja, wenn man so wie Bach komponieren konnte, dann kann man das als Abschluß schreiben. Aber unter deine Artikel und Blogeinträge?  Besonders unter diejenigen, bei denen du schon beim Abschicken weiß: Das ist jetzt vielleicht ein bisschen armselig, aber besser ging's heute nicht. Was bitte könnte dabei eine Ehre für Gott sein? 

Neulich habe ich einer Autoren-Kollegin aus meiner Gemeinde von einer ziemlich misslungenen Lesung erzählt. Ich wäre an dem Abend so gern ein wenig anders gewesen und hätte auch gern die Umstände ein wenig anders gehabt, aber es ging einfach sehr, sehr vieles schief. Und ich bin total entmutigt heimgefahren. Immer noch entmutigt bin ich dann zum Gottesdienst gegangen. Ganz nach dem Motto: Just show up.  Und als ich dort der Weggefährtin die ganzen Missgeschicke aufgezählt habe konnte ich beobachten, wie sich eine große Erleichterung auf ihrem Gesicht ausgebreitet hat. "Ach, dass dir sowas passiert!", sagte sie glücklich. "Das macht mir jetzt so richtig Mut!" Später hat sie sich sogar über WhatsApp nochmal dafür bedankt. Soli deo gloria, kann ich dazu nur sagen! :-) Und deshalb will ich das ganz trotzig glauben:

Unter verhauene Lesungen und unter zähe Predigten, bei denen mir der Schweiß ausbricht, weil ich merke, das kommt nicht an: Soli deo gloria.

Unter Texte, die eigentlich hätten besser sein können, die ich aber heute nicht besser hinbekommen habe: Soli deo gloria.

Unter müde Tage, an denen ich wieder mal viel zu ungeduldig war mit den lateinlernenden Kind und nach halbherzigen Versöhnungen am Abend: Soli deo gloria. 

Am Ende des Tages kann ich einfach nur sagen: Nimm es Jesus. Das was heute möglich war. Mach was draus. Dir zur Ehre.

Und am nächsten Morgen starte ich neu. Mit einem Jesus.Juva. auf den Lippen. 

Wer weiß, vielleicht wird es am Ende eine richtig gute Geschichte.


Apropos gute Geschichte: Schon seit einigen Wochen will ich euch gerne das neue Buch von Anne Gorges vorstellen. Eben genau der, mit der ich nach der misslungenen Lesung zusammensaß. Sie hat so eine wunderbare und ehrliche Art zu schreiben, dass es mir jedes Mal richtig Mut macht wenn ich etwas von ihr lese!  Und bei diesem Buch ging es mir nicht anders:


Anne nimmt und mit hinein in Geschichten vom Wachsen und Staunen, und öffnet die Tür zu ihrem Herzen und ihrem Schrebergarten - dem Stückchen das keiner wollte. Sie schreibt über Anfängerfehler, über die Erbsenernte und andere Dingen, die sich eigentlich nicht lohnen, über die Dinge einem über den Kopf wachsen (nicht nur im Garten), über Hängemattentage, über Brokkoli-Fehlschläge und vieles mehr. Ich beobachte, wie sie im Garten werkelt und manchmal auch verzweifelt an der Hecke reißt und dann mit einem Feierabendbier schwitzend auf die Gartenbank sitzt und einen Segen schreibt. Für die Jahreszeit, in der wir uns gerade befinden. Unter die letzte Seite kann man nur ein dickes Soli deo gloria! schreiben. Weil sie einfach Tag für Tag Wort an Wort gereiht hat, oft auch ziemlich müde, und richtig gute Geschichten daraus geworden sind (und ihr könnt das Buch auch hier, direkt bei der Autorin, bestellen). 

 

dazwischen gibt es sogar kleine,hilfreiche Gartentipps!

Und noch eine Empfehlung für eine Veranstaltung mit einer tollen Künstlerin, falls ihr in der Nähe von Heimerdingen wohnt und für Samstag noch nichts geplant habt: Die Sängerin Sarah Brendel hat ein sehr berührendes Buch geschrieben mit dem schönen Titel: "Das Kleinste ist nicht zu klein." Und wenn Sarah ihre Lieder und Geschichten teilt, dann wird das bestimmt ein ganz besonderer Abend.


S.D.G.

Mittwoch, 9. Oktober 2024

Nichts Besonderes

Gerade komme ich von unserer Arztpraxis zurück. In den letzten 24 Stunden habe ich ein kleines Kästchen um den Hals getragen, das meine Herzschläge aufgezeichnet hat. Nachdem ich meinen Mann in den letzten Wochen zu oft vom Schlafen abgehalten habe, weil mein Herz sich abends einfach nicht beruhigen wollte, hat er mich dringend gebeten, das beim nächsten Arztbesuch zu erwähnen. Und schwupps, hatte ich so ein Teil am Hals. Dazu wurde mit ein leeres Blatt in die Hand gedrückt mit der Bitte alles aufzuschreiben, was ich in den nächsten 24 Stunden so tue. Was ich TUE??? Der Wetterdienst hatte einen langen Regentag angekündigt. Ich hatte nichts weiter geplant als heimzufahren, zu kochen, ein bisschen aufzuräumen, einen genervten 13 Jährigen zum gemeinsamen Puzzlen zu überreden, zum Haus der Freunde zu laufen und wieder zurück und dann früh ins Bett zu gehen. Hoffentlich verletzt sich die Arzthelferin nicht ernstlich, wenn sie beim Lesen meines Protokolls vor Langeweile vom Stuhl fällt.  Ich wollte wirklich etwas Spannendes einbauen. Wenigstens eine Sache bei der die medizinische Fachkraft staunend zu ihrer Kollegin gesagt hätte: "Schau mal was die Frau Schöffler gemacht hat! Wie krass ist das denn!" Aber da hätte man das Gerät schon jemand anderem umhängen müssen. Auch heute vormittag konnte ich, nach 1. Aufstehen und 2. Frühstücken nur eine Sache aufs Protokoll schreiben: Schreibtisch. Und dann: Fahrt zum Arzt. (auf dem E-Bike). Eine Stunde früher als geplant, aber ich wollte die Sache einfach hinter mich bringen. 
In der Praxis wurde ich sofort in eins der freien Untersuchungszimmer gebeten. "Gerade eben habe ich mit meiner Kollegin über sie geredet!", strahlt mich die nette Arzthelferin, während ich mit freiem Oberkörper vor ihr sitze und sie mich von Kabeln und Kästchen befreit. "Ehrlich?", frage ich. In mir keimt Hoffnung auf. Vielleicht habe ich bei meinem letzten Besuch durch irgendeine Sache richtig Eindruck hinterlassen. Keine Ahnung was, aber manchmal fällt einem das ja selber nicht auf, wenn man etwas Beeindruckendes tut. Oder sie haben entdeckt, dass ich Bücher schreibe? Dass sie sozusagen kurz davor stehen, eine berühmte Schrifstellerin in ihrer Datenbank zu führen... Sie unterbricht meine inneren Höhenflüge: "Ja, wir haben gehofft dass sie ein bisschen früher kommen, weil wir das Gerät dringend für den Nächsten brauchen." Alles klar. Ernüchtert lege ich meinen Protokoll auf den Tisch (geschriebenen Seite nach unten) und sehe, dass dort bereits der Aufschrieb, einer anderen Patientin liegt. Sie hat nur drei DInge eingetragen. Mit zitternder Schrift: Treppenlaufen. Toilettengang. Bett. Ich muss schlucken. Plötzlich kommt mir mein Protokoll gar nicht mehr so langweilig vor, sondern ganz herrlich gewöhnlich.  Die Arzthelferin verabschiedet mich mit den Worten:  "Wenn was Besonderes ist, geben wir Bescheid!" Mir wird plötzlich bewusst, dass an diesem Ort die Worte "nichts Besonderes" und "ganz Normal" die besten Worte sind, die man nur hören kann. Und während ich in der klaren Herbstluft nach Hause radle fällt mir der Satz ein, den ich von einem alten Menschen gehört habe: "Alltag und Schmerzfreiheit - das ist großes Glück."

Vor ein paar Tagen hat mir eine Freundin den Bericht einer freigekommenen israelischen Geisel geschickt. Andere sind noch in Gefangenschaft. Nun seit über einem Jahr. Sie erzählt, dass ihr Bruder dort, an dem verschleppten Ort in Gaza gesagt hat, dass das was er am allermeisten vermisst, der Moment am Schabbatabend ist, in dem der Wein in die Gläser gefüllt wird und der Segen über allen Anwesenden gesprochen wird. Sie konnten dort wohl eine Tetrapackung Saft in ihr Versteck schmuggeln und jede Woche, am Freitagabend trinken sie einen kleinen Schluck daraus. Immer in der Hoffnung, dass sie am nächsten Schabbatabend   wieder Zuhause sein werden...Normalität. Kleine, unaufgeregte Rituale. Oft kaum wahrgenommen. Geliebte Menschen am Tisch. Warmes Essen. Ein Segensgebet. Schalom.

Gesegneter Alltag. Das ist ein Regennachmittag und kleine Streitereien. Fahrrad und Frieden und ein warmes Zuhause.  Ein Tagesprotokoll aus vielen kleinen und ganz gewöhnlichen Dingen. 

Während ich hier darüber schreibe, denke ich an all diejenigen, denen dieser Alltag genommen wurde. In Israel. In Gaza. Im Libanon. In der Ukraine und an so vielen Orten auf der Welt. Ich denke auch an die alten Menschen, deren Alltag auf Treppensteigen und Toilettengang reduziert ist und die so wenig segnende Hände erleben.  Ich denke an die Blogleserin, für die der gewohnte Alltag mitten in diesem Sommer, mir der schweren Diagnose ihres Mannes, aufgehört hat.   Ich denke an die 101 Geiseln, darunter ein junger Israeli, der wahrscheinlich auch diese Woche einen kleinen Schluck aus der Tetrapackung nehmen wird, in der Hoffnung am nächsten Schabbat wieder Zuhause zu sein.

Bring them home, bete ich. 

Bring them all home.

Und ich flüstere Danke. Danke - nicht nur für die "nicht besonderen" Tage, für Alltag und Schmerzfreiheit, sondern danke vor allem dafür, dass ich ein Zuhause habe. Dass wir alle ein Zuhause haben. An dem uns offene Arme und segnende Hände erwarten. An jedem Tag unseres Lebens.