Mittwoch, 9. Oktober 2024

Nichts Besonderes

Gerade komme ich von unserer Arztpraxis zurück. In den letzten 24 Stunden habe ich ein kleines Kästchen um den Hals getragen, das meine Herzschläge aufgezeichnet hat. Nachdem ich meinen Mann in den letzten Wochen zu oft vom Schlafen abgehalten habe, weil mein Herz sich abends einfach nicht beruhigen wollte, hat er mich dringend gebeten, das beim nächsten Arztbesuch zu erwähnen. Und schwupps, hatte ich so ein Teil am Hals. Dazu wurde mit ein leeres Blatt in die Hand gedrückt mit der Bitte alles aufzuschreiben, was ich in den nächsten 24 Stunden so tue. Was ich TUE??? Der Wetterdienst hatte einen langen Regentag angekündigt. Ich hatte nichts weiter geplant als heimzufahren, zu kochen, ein bisschen aufzuräumen, einen genervten 13 Jährigen zum gemeinsamen Puzzlen zu überreden, zum Haus der Freunde zu laufen und wieder zurück und dann früh ins Bett zu gehen. Hoffentlich verletzt sich die Arzthelferin nicht ernstlich, wenn sie beim Lesen meines Protokolls vor Langeweile vom Stuhl fällt.  Ich wollte wirklich etwas Spannendes einbauen. Wenigstens eine Sache bei der die medizinische Fachkraft staunend zu ihrer Kollegin gesagt hätte: "Schau mal was die Frau Schöffler gemacht hat! Wie krass ist das denn!" Aber da hätte man das Gerät schon jemand anderem umhängen müssen. Auch heute vormittag konnte ich, nach 1. Aufstehen und 2. Frühstücken nur eine Sache aufs Protokoll schreiben: Schreibtisch. Und dann: Fahrt zum Arzt. (auf dem E-Bike). Eine Stunde früher als geplant, aber ich wollte die Sache einfach hinter mich bringen. 
In der Praxis wurde ich sofort in eins der freien Untersuchungszimmer gebeten. "Gerade eben habe ich mit meiner Kollegin über sie geredet!", strahlt mich die nette Arzthelferin, während ich mit freiem Oberkörper vor ihr sitze und sie mich von Kabeln und Kästchen befreit. "Ehrlich?", frage ich. In mir keimt Hoffnung auf. Vielleicht habe ich bei meinem letzten Besuch durch irgendeine Sache richtig Eindruck hinterlassen. Keine Ahnung was, aber manchmal fällt einem das ja selber nicht auf, wenn man etwas Beeindruckendes tut. Oder sie haben entdeckt, dass ich Bücher schreibe? Dass sie sozusagen kurz davor stehen, eine berühmte Schrifstellerin in ihrer Datenbank zu führen... Sie unterbricht meine inneren Höhenflüge: "Ja, wir haben gehofft dass sie ein bisschen früher kommen, weil wir das Gerät dringend für den Nächsten brauchen." Alles klar. Ernüchtert lege ich meinen Protokoll auf den Tisch (geschriebenen Seite nach unten) und sehe, dass dort bereits der Aufschrieb, einer anderen Patientin liegt. Sie hat nur drei DInge eingetragen. Mit zitternder Schrift: Treppenlaufen. Toilettengang. Bett. Ich muss schlucken. Plötzlich kommt mir mein Protokoll gar nicht mehr so langweilig vor, sondern ganz herrlich gewöhnlich.  Die Arzthelferin verabschiedet mich mit den Worten:  "Wenn was Besonderes ist, geben wir Bescheid!" Mir wird plötzlich bewusst, dass an diesem Ort die Worte "nichts Besonderes" und "ganz Normal" die besten Worte sind, die man nur hören kann. Und während ich in der klaren Herbstluft nach Hause radle fällt mir der Satz ein, den ich von einem alten Menschen gehört habe: "Alltag und Schmerzfreiheit - das ist großes Glück."

Vor ein paar Tagen hat mir eine Freundin den Bericht einer freigekommenen israelischen Geisel geschickt. Andere sind noch in Gefangenschaft. Nun seit über einem Jahr. Sie erzählt, dass ihr Bruder dort, an dem verschleppten Ort in Gaza gesagt hat, dass das was er am allermeisten vermisst, der Moment am Schabbatabend ist, in dem der Wein in die Gläser gefüllt wird und der Segen über allen Anwesenden gesprochen wird. Sie konnten dort wohl eine Tetrapackung Saft in ihr Versteck schmuggeln und jede Woche, am Freitagabend trinken sie einen kleinen Schluck daraus. Immer in der Hoffnung, dass sie am nächsten Schabbatabend   wieder Zuhause sein werden...Normalität. Kleine, unaufgeregte Rituale. Oft kaum wahrgenommen. Geliebte Menschen am Tisch. Warmes Essen. Ein Segensgebet. Schalom.

Gesegneter Alltag. Das ist ein Regennachmittag und kleine Streitereien. Fahrrad und Frieden und ein warmes Zuhause.  Ein Tagesprotokoll aus vielen kleinen und ganz gewöhnlichen Dingen. 

Während ich hier darüber schreibe, denke ich an all diejenigen, denen dieser Alltag genommen wurde. In Israel. In Gaza. Im Libanon. In der Ukraine und an so vielen Orten auf der Welt. Ich denke auch an die alten Menschen, deren Alltag auf Treppensteigen und Toilettengang reduziert ist und die so wenig segnende Hände erleben.  Ich denke an die Blogleserin, für die der gewohnte Alltag mitten in diesem Sommer, mir der schweren Diagnose ihres Mannes, aufgehört hat.   Ich denke an die 101 Geiseln, darunter ein junger Israeli, der wahrscheinlich auch diese Woche einen kleinen Schluck aus der Tetrapackung nehmen wird, in der Hoffnung am nächsten Schabbat wieder Zuhause zu sein.

Bring them home, bete ich. 

Bring them all home.

Und ich flüstere Danke. Danke - nicht nur für die "nicht besonderen" Tage, für Alltag und Schmerzfreiheit, sondern danke vor allem dafür, dass ich ein Zuhause habe. Dass wir alle ein Zuhause haben. An dem uns offene Arme und segnende Hände erwarten. An jedem Tag unseres Lebens.


 

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