"Samuel hol mal schnell deinen Papa!", ruft unser Vermieter. Ich denke schon es ist schlimmeres passiert, da sehe ich, dass er einen kleinen verletzten Vogel vorsichtig vom Asphalt pflückt und an Heio übergibt. Es hat sich in der Nachbarschaft schon rumgesprochen, dass Heio derjenige ist, der verletzte Tiere und halbkaputte Pflanzen durchbringt. Apropos Pflanzen: In der gesamten Nachbarschaft wurden dieses Jahr die Buchsbaumhecken von einer gemeinen Raupenart befallen. Und wenn diese Viecher mal anfangen zu essen, hören sie nicht mehr so schnell auf. Kahlfraß wohin man blickt. Die Nachbarn versuchen es mit irgendeinem Pflanzengift. Dann fällt eine Hecke nach der anderen. Nur in unserem Garten nicht! Stundenlang ist der Mann draußen, pflückt die Raupen vom Baum und gießt die dürren Planzen mit Wasser ab. Samu unterstützt ihn tatkräftig dabei. (Heio schätzt, dass sie ungefähr 900 Kriechtiere abgepflückt haben!)
Die Nachbarn legen uns Fachartikel vor die Tür, dass man solche Hecken nicht mehr retten kann. Und sie beobachten weiter kopfschüttelnd was in unserem Garten geschieht. Ich auch. Das wird doch nichts mehr! Was für eine vergebliche Liebesmüh! Ich bin dafür, die Hecke abzusägen. Am besten sofort. Heio schlägt noch sechs Wochen raus. Eigentlich würde er gerne noch viel länger abwarten, aber er kommt nicht gegen mich und die geballte Ladung der Raupen-Experten in der Nachbarschaft an.
Kurz vor der vereinbarten Frist entdecke ich zu meinem allergrößten Erstaunen plötzlich grüne Zweige in der Hecke. Ich reibe mir die Augen. Das gibt`s doch nicht! Der totgesagte Strauch wird wieder grün! Auferstehungsluft in unserem Garten. Die Säge, die ich schon von unserer Nachbarin ausleihen wollte, bleibt unbenutzt. Die Experten sind verstummt. Und Heio ist der stille Held der geduldigen Gärtner.
Und jetzt also der Vogel! Ich werfe einen kurzen Blick auf das arme kleine Wesen mit den eingeklappten Flügeln, das noch kaum die Augen aufbekommt und sage: "Den kriegen wir nicht durch. Das können wir vergessen." Heio uns Samu hören gar nicht zu. Sie sind schon im Garten unterwegs und kommen kurz darauf mit einem glibbrigen Wurm wieder. Aber der Vogel ignoriert den Leckerbissen.
Und auch der größte Teil der Wassertropfen, die ihm mit einer kleinen Wasserspritze eingeflößt werden, verfehlen den zaghaft geöffneten Schnabel. "Das wird nichts!", sage ich und überlege schon ob wir das arme Tier am Ende verbuddeln oder einfach in die Mülltonne werfen sollen. Wir stellen ihn in der Transportbox auf den Balkon und widmen uns wieder anderen Dingen. Nur Samu harrt neben dem Vogel aus. Und plötzlich ruft er triumphierend: "Mama, er ist weggeflogen!" Ungläubig laufe ich dazu. Tatsächlich, die Box ist verlassen und Samu zeigt auf den hohen Baum im Garten. "Da oben sitzt er. Er kann wieder fliegen!" Ich kann es kaum glauben, während Heio weniger überrascht ist. Er rechnet einfach viel mehr damit, dass sich das Leben durchsetzt.
Und an dieser Stelle bin ich mal wieder froh, dass Gott ganz anders ist als ich! Er pflückt geduldig immer wieder die schrägen Gedanken aus meinem Kopf, sagt mir dass er mich lieb hat und gießt noch ein bisschen Segen hinterher. Und vielleicht hat er ja ab und zu einen etwas nachdenklichen Engel neben sich stehen, der einwendet: "Aber das wird doch nichts mehr, oder? Das lernt sie doch nie! Ist das nicht vergebliche Liebesmüh? Sollen wir nicht lieber den blühenden Bäumen ein bisschen Platz schaffen?" Ok. Ich glaube nicht dass ein Engel ernsthaft etwas einwenden würde. Weil er weiß: Unter Gottes Händen können Tote wieder lebendig werden und die Wüste wieder aufblühen. Gott ist wie der Gärtner in dem Gleichnis das Jesus erzählt, der auch nach drei Jahren in denen der Feigenbaum keine Frucht gebracht hat sagt: "Ach, lassen wir ihm noch ein Jahr!" (Lukas 13,6ff). Gib ihr noch ein bisschen Zeit. Lassen wir die Wunden langsam heilen. Geben wir noch eine große Gießkanne Liebe dazu. Und dann warten wir. Und dann sprechen wir ihr immer wieder ein paar Wahrheiten ins Herz, solange bis sie es wirklich glauben kann... Oh Mann, Gott ist sooo geduldig!!!
Anne Lamott schreibt, dass Geduld die Gegenwart etwas geräumiger macht. Das finde ich ein schönes Bild! Geduld schafft ein bisschen mehr Platz, ein bisschen mehr Zeit, wenn andere sagen: "Komm, vergiss es." Geduld wartet noch ein wenig ab und öffnet damit einen Raum in dem noch etwas passieren könnte. Geduld schafft Platz für ein Wunder.
Gesegnet all diejenigen, die sich weigern aufzugeben - und damit Platz für ein Wunder schaffen.
Und plötzlich ist da ein grüner Zweig. Ein Flügelschlag. Ein Lächeln. Eine Versöhnung. Eine Heilung. Ein Baby. Ein weiches Herz. Eine Umkehr. Ein neuer Blick. Ein guter Gedanke. Neues Leben.