Es ist ein offenes Geheimnis, dass gerade in der frommen Welt einiges ins Wanken gerät (auch wenn ich das meiste nur ganz am Rande mitbekommen). Als ich aber am Wochenende von den traurigen Skandale und Misstände einer großen internationalen Lobpreisbewegung gehört habe, war ich echt erschüttert. Wie ist es nur möglich, dass wir als Christen solche toxischen Systeme aufbauen? Wie kann es sein, dass eine Bewegung Segen bringt und gleichzeitig einige der Leitenden so viel Unheil anrichten? Spontan habe ich abends einen meiner geistlichen Vorbilder gegoogelt, um zu erfahren, ob er sich zu den Vorfällen geäußert hat. Entsetzt habe ich dabei festgestellt, dass
gegen ihn selbst gerade ein Ermittlungsverfahren läuft, wegen
moralischem Fehlverhalten. Noch ist nicht klar inwieweit die Vorwürfe berechtigt sind, aber
ich saß auf meiner Bettkante, starrte auf mein Handy und konnte nur vor mich hinflüstern: "Nicht DU auch noch! Bitte, nicht Du auch noch!"
Auch heute noch, ein paar Tage und viele Gedanken später, lässt mich das Thema nicht wirklich los. Klar, man kann auf das Gute schauen, das es ja immer auch gibt. Aber auch die Traurigkeit braucht Raum. Die Gedanken und Gebete für all diejenigen, die betroffen sind. Und auch die Frage wie so etwas immer wieder passieren kann. Und ob es etwas gibt, was man dagegen tun könnte? Ich glaube, dass Fragen uns manchmal weiter bringen als schnelle Antworten. Dass sie wie aufsässige Teenager sind, mit denen wir ringen müssen, bis wir zusammen erwachsen und klug werden. Und so frage ich mich:
Lasse ich zu, dass Menschen in mein Leben sprechen?
Das ist sehr fromm ausgedrückt. Und ganz praktisch kann das richtig schmerzhaft sein. Vor einiger Zeit habe ich zu Freunden von uns gesagt: "Ich will das! Bitte sagt mir wenn euch etwas auffällt was ihr nicht gut findet - an mir, an unserer Ehe, an unserer Erziehung, an meinem Umgang mit anderen...ich habe so viele blinde Flecken!" Ich hoffe dabei innerlich natürlich, dass ihnen NIE etwas auffallen wird! Doch da fing der ehrliche Freund gleich an: "Ja, Christina, jetzt wo du das so sagst, da gibt es tatsächlich etwas... " Und dann sagte er eine Sache bei der ich nur zustimmend nicken konnte. Du hast ja soo recht! Daran will ich arbeiten! Ich war dankbar und gleichzeitig wollte ich mir die Ohren zuhalten. Kritik anzunehmen fällt mir ehrlich so schwer! Aber ich will es lernen. Ich weiß: Ich brauche das! Und ich glaube wir alle brauchen (gut ausgewählte!) Menschen, deren Urteil wir vertrauen und die uns Dinge rückmelden dürfen, die nicht so toll sind. Gerade in einer Zeit in der wir uns ungern von jemand anderem sagen lassen was wir zu tun haben (am Sonntag in der Predigt gehört: Derzeit bestes frommes Totschlagargument: "Vielleicht hast du ja recht aber das ist für mich gerade nicht dran!;-)").
Will ich, dass Menschen Jesus lieben oder dass sie MICH toll finden?
Mein erster Gedanke dazu ist: Natürlich will ich, dass sie Jesus lieben! Und natürlich will ich, dass sie mich toll finden! Und ehrlich gesagt drehen sich meine Gedanken so viel mehr viel um letzteres. Heute morgen habe ich gelesen was Paulus über Timotheus schreibt:
Ich kenne keinen der so aufrichtig wie er um euch besorgt ist. Alle anderen sind nur auf sich selbst bedacht und nicht auf das was Jesus wichtig ist. Aber ihr wisst ja, wie Timotheus sich bewährt hat. (Phil.2,20)
Mich trifft dieser Satz ins Herz. Und ich will mich bewähren - mit Gottes Hilfe! - als ein Mensch, der auf das bedacht ist, was Jesus wichtig ist. Und ich will aufrichtig um andere besorgt sein. Nicht als ein Weg in die ungesunde Selbstlosigkeit (weil zu den Dingen die Jesus wichtig sind auch gehört, dass er mir Freiheit und Leben in Fülle geben will!). Aber ich will weg vom ungesunden Kreisen um mich selbst. Und so wie ich Freiheit und Heil von Jesus für mich annehmen, wie ich das auch an andere Menschen in meiner Umgebung weitergebe.
Und auch das: Ich will Menschen nicht an mich binden, sondern - wie Bonhoeffer sagte: Zwischen uns steht immer der Gekreuzigte! Und wenn ich fallen sollte, oder wenn ich mit meinem Stolpern andere verletze - dann hoffe ich, der andere schaut auf Jesus. Und geht weiter.
Bitte ich um Verzeihung, wenn ich etwas falsch gemacht habe?
Auch das fällt mich schwer. Besonders wenn es um Menschen geht, die außerhalb meiner Familie sind (bei denen habe ich Übung - da muss ich mich ständig entschuldigen!). Aber wenn ich merke, dass ich bei jemand anderem durch mein Verhalten Unheil angerichtet habe, dann hoffe ich immer sehr, dass es damit getan ist, dass ich bei Gott um Vergebung bitte. Meistens ist das auch in Ordnung, Gott lächelt mir gnädig zu und ich habe wieder inneren Frieden. Aber ab und zu stellt sich der Friede nicht ein. Dann nagt mein Verhalten an mir. Und ich spüre: die Beziehung zum anderen ist belastet. Dann weiß ich: jetzt muss ich zum Telefonhörer greifen und mich so ganz in echt entschuldigen. Erst heute ging mir das so. Der Anlauf dazu ist nicht einfach. Ich empfinde das immer als sehr beschämend. Aber das Gefühl danach ist so wunderbar befreiend! Wie ein froher Neuanfang! Und es ist eine gute Erinnerung für mich: Ich bin Mensch. Ich mache Dinge falsch. Ständig. Ich muss mich nicht dafür verurteilen. Aber ich kann mich entschuldigen. Und ich will sensibel für Gottes Reden bleiben.
Brauche ich Marianne?
Zur Erklärung: So heisst meine Seelsorgerin. Ich habe sie schon länger nicht mehr gesehen, aber wenn es brenzlig wird, dann habe ich ihre Nummer. Wenn mich alte Gewohnheiten wieder plagen, wenn zu oft alte Pornos in meinem Kopf abgespielt werden, wenn sich die Esstörung zurückmeldet, wenn mich eine ungesunde Beziehung plagt oder wenn ich in einer anderen Sache, die meine Seele verletzt hat Hilfe brauche - dann habe ich ihre Nummer. Und das ist so eine gute Sache! Wenn ich nämlich allein bleibe mit meinen Wunden und Dreck rein kommt, kann das gefährlich werden. Für mich und für
andere. Ach, ich wünsche wirklich jedem Menschen eine "Marianne" in der Hinterhand. Ein Mensch, dem man sein ganzes Dunkel und allen Schmerz anvertrauen kann ohne verurteilt zu werden. Eine Seelsorgerin oder Therapeutin, die ein hilfreiches Wort hat und einen Weg durchs Dunkel zeigen kann.
Es gibt sicher noch mehr gute Fragen. Über die Art wie (Gemeinde)Systeme funktionieren, zum Beispiel. Oder was zu viel Macht mit uns Menschen macht. Aber für mich ganz persönlich sind diese vier die Wichtigsten. Auch wenn es mir schwerfällt: Ich will diese Dinge einüben. Und sollte ich irgendwann einmal etwas Größeres - vielleicht sogar in aller Öffentlichkeit! - falsch machen, dann hoffe ich sehr, dass folgendes passiert:
Meine Freunde machen mich darauf aufmerksam.
Ich bin weniger besorgt um meinen guten Ruf als um die Menschen, denen ich Schaden zugefügt habe.
Ich bitte um Verzeihung.
Ich rufe Marianne an.
Was für wertvolle Gedanken! Danke, liebe Christina! Auch ich bin erschüttert und betroffen, aber ich will doch bei mir selber wachsam und aufmerksam bleiben. Danke von Herzen!!
AntwortenLöschenDanke Sonja. Das will ich auch: Aufmerksam und wach bleiben...und brauche Menschen wie dich, die mir dabei so gut tun!
LöschenIch finde es so schade, dass man als Christ so oft manipuliert wird und man Dinge tun sollte, auch wenn das Herz nein sagt. So verlernt man es mündig zu sein und ist ein leichtes Opfer. Jesus setzt nicht unter Druck, er überfordert mich nicht, sondern geht liebevoll mit mir Schritt für Schritt in meinem Tempo.
AntwortenLöschenDas ist so wahr! Vielen Dank für diese gute Ergänzung!
LöschenLiebe Christina, das sind gute, hilfreiche Gedanken.
AntwortenLöschenUnd ich hätte wirklich auch gerne eine Marianne. Aber die sind nicht leicht zu finden...
Liebe Grüße von Maria
Liebe Maria! Das stimmt, leider. Aber vielleicht gibt es dann ältere Menschen in der Nähe, ohne den offziellen Seelsorgetitel, aber mit Lebenserfahrung und einem barmherzigen Hinhören...zumindest könnte man nach solchen Menschen Ausschau halten. Wir brauchen sie so sehr!
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