Dienstag, 30. September 2025

Besuch im Herbst

Ich bin so müde. Und ich weiß, dass man einen Text nicht mit "ich" beginnen sollte, aber das ist erhrlicherweise der Satz, der gerade am Anfang meiner Tage steht. Dann quäle ich mich aus dem Bett, werfe einen Blick auf die Nebelsuppe vor dem Fenster und schlurfe in die Küche, um mir einen Kaffee zu kochen. Müde schlage ich meine Bibel auf. Lese von dem erschöpften Elia, dem Gott einen Engel mit frisch gebackenen Brot und Wasser vorbeigeschickt hat, der ihn dann weiterschlafen ließ, bevor der müde Prophet gestärkt weitergehen konnte, um mit Gott am Berg Horeb einen liebevoll geflüsterten Dialog zu führen.(s. 1.Könige19). Ich hoffe auf einen Engel. Ich warte auf das liebevolles Flüstern. Heute finde ich es in dem Buch der Wortkünstlerin Sarah Marie. Sie schreibt so wunderbar über die Herbstmüdigkeit: 

Weißt du, dass das eigentlich normal ist?
Schau mal, alles um uns kommt grad zum Stehen
Gestern war ich draußen und ich habe
ein gelbes Blatt zu Boden fallen sehen
Zu keiner Zeit hab ich im vorgeworfen
dass es sich anstellt, dess es Schwäche zeigt
Stattdessen sagte ich zu ihm im Stillen:
ist schon okay, alles hat seine Zeit.*
 
 
Während ich das hier aufschreibe stelle ich mir vor, dass die Müdigkeit wie eine alte Freundin ist, die zu Besuch kommt.  Am liebsten würde ich ihr ja die Tür vor der Nase zuschlagen und sagen: "Du kommst sehr ungünstig! Ich habe TERMINE! Ich hab wirklich KEINE ZEIT! Komm wann anders wieder." Und gütig lächend sagt die Herbstmüdigkeit:
Ich komme genau richtig - alles hat seine Zeit. 
Also öffne ich ihr die Tür und bitte sie freundlich herein (bevor sie sich draußen den Tod holt). Sie nimmt im Schaukelstuhl am Ofen Platz und packt ihre Geschenke aus: 
 
Sie hilft mir langsamer zu gehen. Die Pausen ein bisschen verlängern. 
 
Sie macht mich darauf aufmerksam mein Gesicht in die Sonne halten, wenn sie nachmittags kurz auf unserem Balkon vorbeischaut. 
 
Sie bringt mich dazu, früher ins Bett zu fallen und mehr liegen lassen. 
 
Sie erzählt mir die Geschichten, die ich im Sommer zu schnell gelesen habe, nochmal mit ruhiger Stimme. 
 
Sie erinnert mich am Samstagabend daran, die Decke der Gnade auszubreiten und die Schabbatkerze anzuzünden.

Sie bringt mir eine dampfende Suppe mit frischgebackenem Brot und befiehlt mir nicht ständig an mir zu zerren, sondern mich einfach mal ein bisschen in Ruhe zu lassen. 
 
VIelleicht ist meine Herbstmüdigkeit ein klein wenig das für mich, was der Engel für Elia war. Sie lässt mich essen und schlafen und wenn ich bereit für die nächste Wegstrecke bin, packt sie ihre Koffer und verabschiedet sich mit einem sanften Kuss auf die Stirn und einem leisen: Alles hat seine Zeit. 
 
 
Ich glaub, jetzt ist die Zeit zum Innehalten
Wickel dich in warme Decken ein
Mach dir einen Tee und komm zur Ruhe
Du musst nicht stärker als die anderen sein.
Halt die Empathie nicht nur für andere
Zeig auch etwas Verständnis für dich selbst
Nach wochenlangem Sommer darf der Herbst kommen
Das gilt für dich genau wie für die Welt.  
 
(*Sarah Marie in ZWISCHEN MENSCHLICHES.) 
 
 

 
  

 

 

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