Seit
einiger Zeit merke ich, dass ich zunehmend schlechter sehe. Ich habe
es lange verdrängt und einfach Heios Brille für` s Autofahren
aufgesetzt (viel besser!!!).
Aber nun
beeinflusst es zunehmend meinen Alltag:
Ich winke
wildfremden Leuten von weitem zu, weil ich nicht sicher bin ob es
Leute sind die ich kenne oder nicht (und ich winke lieber, weil ich
nicht unfreundlich sein will).
Ich renne
zur Straßenbahn bis kurz vor die Anzeigetafel- vorbei an
erstaunten Wartenden- weil ich erst da erkennen kann, dass die Bahn in 10 Minuten kommt.
Ich kann
in der Bäckerei die Preisschilder an den Broten nicht mehr lesen und kann
auch auf der Anzeige der Kasse nichts erkennen. Wie eine alte Frau
bin ich geneigt der Bäckerin meinen Geldbeutel hinzuhalten und sie
zu bitten den entsprechenden Betrag einfach zu nehmen
Wie mir
dann eine Freundin erzählt sie hätte geträumt, dass
ich erblinde bin ich endlich in das Brillenfachgeschäft um die
Ecke. Hier wurde bestätigt was ich befürchtet hatte: altersbedingt
lässt meine Sehstärke langsam nach - das sagt mir so ein junger
Brillenträger fröhlich in´s Gesicht. Ich denke entrüstet: so alt
bin ich doch noch gar nicht und wie redet denn der mit mir - der könnte
ja locker mein Sohn sein! ;-). Nun gut, ich lasse mich überzeugen und
bestelle mir Kontaktlinsen. Mir steht keine Brille. Wirklich nicht!!!
Eine
Freundin meinte aufmunternd: "Jedem steht eine Brille!",
und setzte mir ihre Eigene auf die Nase. "OK, fast jedem steht
eine Brille", meinte sie dann und ermutigte mich die
Kontaktlinsen auszuprobieren.
Jetzt
liegen sie bei uns im Bad. Einmal habe ich es schon geschafft sie
mühsam in meine kleinen Augen zu popeln. Und ich muss sagen: die
Fernsicht ist überwältigend! Ich kann Blätter an den Bäumen am
Ende unseres Gartens sehen(bisher nur grüne Umrissen am Horizont),
ich erkenne vom Sofa aus die kleinsten Beschriftungen auf den
Buchrücken im Regal, ich laufe wie eine geheilte Blinde durch die
Gegend und lese meinem armen Mann alles vor was ich von weitem sehen
kann.
Nach dem ersten Ausflug mit Kontaktlinsen bin ich
begeistert. Aber im Spiegel entdecke ich mit Schrecken eine gealterte
Frau, mit vielen Falten um die Augen und um die Lippen(!). Wer ist
das denn??!! Schnell lege ich die Linsen wieder in ihr Wasserbad und
genieße für`s erste wieder den gnädigen Weichzeichner, zumindest was mein
Spiegelbild angeht. Seitdem
schlummern meine Augenöffner friedlich in ihrem Behälter und ich
bin noch nicht sicher wie ich weiter verfahren soll.
Heute habe
ich mich mit einer Freundin zum Frühstück getroffen. Sie ist zwar
ein paar Jahre jünger ist als ich, aber wir sind schon seit langem befreundet. Bei unserem Gespräch fiel mir auf wie sich
manches, was wir vor Jahren gedacht und geglaubt haben und wovon wir
zutiefst überzeugt waren, verändert hat.
Manche Ent
-täuschungen haben wir erlebt und und da wo wir meinten einen klaren
Durchblick zu haben, sind jetzt die Linien verschwommener geworden.
Altersbedingte Sehschwäche? Ich meine nicht - vielleicht eher
jugendlich überschätzte Sehkraft!
Aber ich
bemerke etwas erstaunliches: wenn auch an manchen Stellen
die Linien merklich unklarer werden - es wächst eine
Sehkraft auf andere Dinge.
Während Worte wie "Erfolg", "Berufung",
"eigenes Wissen", "richtig oder falsch"
verschwommener werden oder aus dem Fokus verschwinden, wird anderes langsam klarer und zentraler. Wie Landschaften, über denen sich der Nebel lichtet kommen nun andere Worte in`s Blickfeld: Worte wie "Gnade",
"Erlösung"; "Hoffnung", "Vertrauen", "geliebt werden".
Ich kann
es noch nicht wirklich fassen und reibe mir die Augen, bin irgendwo
zwischen schwindender Sicht und zunehmender Klarheit.
Nach dem
Gespräch heute morgen denke ich mir, dass man
vielleicht zweierlei tun kann: entweder frustriert zu versuchen das Unscharfe
wieder klar zu stellen, oder aber den Blick dem zuwenden was anfängt
ganz langsam ein wenig heller zu werden. Diesen Blick
wünsche ich mir für die Jahre die kommen: gespannt, leise
buchstabierend wie ein Kind, voller Staunen über die neue
Welt die sich hier auftut.
In diesem
Sinne freue mich auf das älter werden,
ob mit oder ohne Brille - wir werden sehen(d).
ob mit oder ohne Brille - wir werden sehen(d).
Hoffentlich.
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