Dienstag, 5. Juli 2016

Erzähl.

Vor einigen Nächten ist es wieder passiert: ich habe vom meinem Papa geträumt. Das tue ich nicht oft. Aber jedes Mal sind die Bilder so lebendig, dass ich mit einem Kloß im Hals und Tränen in den Augen aufwache.
In meinem Traum sehe ich nicht den leidenden, kranken Mann der er am Ende seines Lebens war. Ich sehe meinen Vater in seinen jungen Jahren. So wie ich ihn nur aus alten Fotoalben kenne. Sein Blick voller Schalkhaftigkeit, Energie und satter Lebensfreude.


Keine Ahnung ob es theologischer Unsinn ist, aber vielleicht sehen unsere Körper im Himmel tatsächlich so aus wie in unseren "besten Jahren" (egal in welchem Alter wir gestorben sind). Diese Vorstellung finde ich irgendwie tröstlich.

Der Todestag meines Vaters jährt sich in diesem Monat zum vierten Mal. Immer wenn ich von ihm träume, dann merke ich wieder wie sehr er mir fehlt. In manchen kleinen Alltagssituationen. Wenn ich etwas sehe oder schmecke, oder wenn Samuel mich in manchen Dingen an ihn erinnert.(seine Leidenschaft für Züge und Schokolade zum Beispiel) Dann wünschte ich unsere Leben würden nicht chronologisch hintereinander verlaufen sondern wir könnten die Zeit wie eine Karte zusammenfalten und heute alle zusammen sein mit den Menschen die wir lieben, so lebendig und wunderbar wie wir geschaffen wurden. 
Selten habe ich treffendere Worte über das Vermissen von geliebten Menschen gelesen, als die Worte von Mark Twain, die er nach dem Tod seiner Tochter aufgeschrieben hat:

Das Haus eines Menschen brennt ab. Rauchende Überreste zeugen von einem Haus das er jahrelang geliebt hat und mit dem er so viele kostbare Erinnerungen verbindet. Nach und nach, mit den Tagen und Wochen die verstreichen, fängt er an Dinge zu vermissen. Und eins ums andere Mal geht ihm auf, dass dieser Gegenstand in seinem Haus war. Immer ist es etwas wesentliches, ein Einzelstück, das sich nicht einfach ersetzen lässt... Er hat nicht bemerkt wie wesentlich und wie bedeutend es für ihn war solange es einfach da war. Nach und nach fängt er an den Verlust zu begreifen   

Etwas von dem was einfach da war, ein Verlust der mir erst mit den Jahren bewusst wird, war die Fähigkeit von meinem Vater meinen Geschichten zuzuhören.  Mein Vater hörte nicht auf die Art zu wie es leider so viele Menschen tun: Sie warten innerlich darauf bis du fertig bist, entweder damit sie selbst zu Wort kommen können oder damit sie sich wieder der wichtigen Beschäftigung widmen können bei der du sie unterbrochen hat. Was einen sehr einsam machen kann, weil man annimmt dass der andere sich nicht dafür interessiert wer man wirklich ist
Bei meinem Papa war das ganz anders. Er konnte WIRKLICH, RICHTIG zuhören. Sogar wenn ich spät abends nach Hause kam und er sich schon in`s Bett gelegt hatte wusste ich: er steht nochmal auf, setzt sich auf den Sessel neben dem Klavier und sagt "Erzähl!"  Und dann hatte alle Zeit der Welt um mir zuzuhören.(oft hat er auch noch eine Schokolade ausgepackt die wir dann genüsslich nebenher verschlungen haben) 
Und ich habe erzählt. Kleinen Geschichten aus meinem Alltag. Was ich im Krankenhaus erlebt hatte. Lustige Begebenheiten mit den behinderten Kindern. Von den Jesus Freaks. Von Urlaubsreisen. Von Geschichten die ich von anderen gehört hatte. Bücher die mich berührt hatten. Egal was es war: er hörte begeistert zu. Und - ohne dass es ihm oder mir bewusst war - brachte er mir bei Geschichten zu erzählen. Das Besondere in meinem Alltag zu finden. Tragisch-komisches zu entdecken. Einen Sinn hinter manchem zu finden. Einen größeren Zusammenhang zu entdecken. Etwas so weiterzugeben, dass es das Herz des anderen berührt.(meine persönliche Herausforderung war immer, dass er zumindest an einer Stelle herzhaft lachen konnte und einmal vor Rührung Tränen in den Augen haben sollte)
Ich habe irgendwo gehört dass Geschichten die Kraft haben etwas in uns heil zu machen. Wenn ich zurückdenke, an diese Abende in unserem Wohnzimmer, glaube ich tatsächlich, dass es heilende Momente waren.

Oft genug habe ich als erzählfreudiges Kind den Satz gehört: "Bist du jetzt endlich fertig mit deinen Geschichten?!" Jedes Mal hat es mich beschämt. Ich habe die Botschaft dahinter verstanden: Stell dich doch nicht so in den Mittelpunkt! Was denkst du wer du bist? Wer interessiert sich denn schon für deine Geschichten?! Un heute, also gerade jetzt während ich das schreibe, denke ich: Vielleicht hätte ich aufgehört zu erzählen wenn nicht mein Vater gewesen wäre. Der stille Mann der bereit war seiner Tochter zuzuhören. Sein Herz berühren zu lassen. Der mir damit gesagt hat: Deine Geschichten sind es Wert gehört zu werden.
 
Dass ich jetzt, Jahre später meine Geschichten aufschreibe dass ich sogar ein Buch über meine gewöhnlichen Geschichten geschrieben habe - das hat mein Vater leider nicht mehr mitbekommen. Aber wenn ich ihn im Himmel treffen wovon ich stark ausgehe, wenn er mir entgegenläuft - voller Energie und Freude, in seinen "besten Jahren" - dann wird er mich vielleicht in eine ruhige Ecke ziehen (und ich hoffe sehr im Himmel gibt es ein paar ruhige Ecken für uns Introvertierte!) und mich fragen: "Wie ging deine Geschichte weiter mein Mädchen? Erzähl." Und dann kann ich ihm endlich danke dafür sagen, dass er sich immer die Zeit genommen hat mir zuzuhören. 

Ich wünsche jedem von euch so sehr Menschen die einfach zuhören. Die sich Zeit nehmen.
Die nichts wichtigeres zu tun haben (weil es für sie tatsächlich nichts wichtigeres gibt). Die alles stehen und liegen lassen und sich mitten auf dem Weg niederlassen können und die mit ihrem Interesse zeigen: deine Geschichte ist unglaublich wertvoll. DU bist wertvoll.  Und ich wünsche mir, dass ich selbst so ein Mensch für andere sein kann.


 Heute, mit krankem Kind zuhause, (das immer sehr mitteilungsbedürftig ist, wenn es Fieber hat!) kann ich mich darin üben. Zeit nehmen. Zuhören. Oder heute Abend: Kein Fußball schauen. Stattdessen Heio anschauen und ihm zuhören. Er hat noch gar nicht richig von seinem kleinen Ausflug erzählt...

Ich will lernen die Dinge die mir so wichtig scheinen stehen und liegen zu lassen und zu sagen: "Erzähl! Wie war dein Tag? Wie ist dein Leben? Was bewegt dich?"  
Heute scheint es vielleicht etwas kleines zu sein, aber am Ende ist es etwas ganz wesentliches und bedeutendes und sogar etwas heilendes was wir füreinander tun können.  


(Und ich danke Heio, der mir fast so gut zuhören kann wie mein Papa, meinen Freunden die immer bereit sind mir zuzuhören und jedem von euch: DANKE, dass ihr euch die Zeit nehmt meine kleine Geschichten zu lesen!) 

8 Kommentare:

  1. Oh, das ist wunderschön! Meine Tränen sind geflossen dabei.

    LG Nicola

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  2. Liebe Christina,
    Solche Träume wie du sie von deinem Vater hattest sind etwas ganz besonderes!
    Wie ein liebevoller Gruß an dich - durch deine dadurch entstandenen Schlussfolgerungen....wie wenn er dir dadurch sagen wollte erinnere dich daran, um dich zu trösten.....so schön, und sehr,sehr berührend geschrieben....und ich bin mir sicher wenn ihr euch irgendwann wieder seht wird er zu dir sagen: "...erzähl ....."
    Vielen lieben Dank für das Teilen deiner so persönlichen Geschichte - und es freut mich für dich, das du so einen tollen Vater haben durftest.
    Liebe Grüße B

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    1. Danke für deine Gedanken dazu!Ein liebevoller Gruß- das ist schön.... Segen und liebste Grüße zurück!

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  3. Was für ein wunderbares Geschenk, solch ein Vater gehabt zu
    haben!!!
    LG Ursula

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    1. Ja, das ist wahr! :-) LG zurück zu dir, liebe Ursula

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  4. Liebe Christina, heute habe ich hier hergefunden und deine Geschichten, besonders die du hier von deinem Vater erzählst, haben mich sehr berührt. So ein Segen, solch einen Vater und Zuhörer gehabt zu haben. Ich kenne das Gefühl gut, wenn das Gegenüber gar nicht richtg hinhört. Du hast mich ermutigt, auch meinen Kindern, insbesondere meiner erzählfreudigsten Tochter gut zuzuhören.´Liebe Grüße, Jojo von VollkommenBesonders





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