Dienstag, 23. Mai 2023

Wenn Helden fallen

Es ist ein offenes Geheimnis, dass gerade in der frommen Welt einiges ins Wanken gerät (auch wenn ich das meiste nur ganz am Rande mitbekommen). Als ich aber am Wochenende von den traurigen Skandale und Misstände einer großen internationalen Lobpreisbewegung gehört habe, war ich echt erschüttert. Wie ist es nur möglich, dass wir als Christen solche toxischen Systeme aufbauen? Wie kann es sein, dass eine Bewegung Segen bringt und gleichzeitig einige der Leitenden so viel Unheil anrichten? Spontan habe ich abends einen meiner geistlichen Vorbilder gegoogelt, um zu erfahren, ob er sich zu den Vorfällen geäußert hat. Entsetzt habe ich dabei festgestellt, dass gegen ihn selbst gerade ein Ermittlungsverfahren läuft, wegen moralischem Fehlverhalten. Noch ist nicht klar inwieweit die Vorwürfe berechtigt sind, aber ich saß auf meiner Bettkante, starrte auf mein Handy und konnte nur vor mich hinflüstern: "Nicht DU auch noch! Bitte, nicht Du auch noch!" 
Auch heute noch, ein paar Tage und viele Gedanken später, lässt mich das Thema nicht wirklich los. Klar, man kann auf das Gute schauen, das es ja immer auch gibt. Aber auch die Traurigkeit braucht Raum. Die Gedanken und Gebete für all diejenigen, die betroffen sind. Und auch die Frage wie so etwas immer wieder passieren kann. Und ob es etwas gibt, was man dagegen tun könnte? Ich glaube, dass Fragen uns manchmal weiter bringen als schnelle Antworten. Dass sie wie aufsässige Teenager sind, mit denen wir ringen müssen, bis wir zusammen erwachsen und klug werden. Und so frage ich mich: 


Lasse ich zu, dass Menschen in mein Leben sprechen?   
 
Das ist sehr fromm ausgedrückt. Und ganz praktisch kann das richtig schmerzhaft sein. Vor einiger Zeit habe ich zu Freunden von uns gesagt: "Ich will das! Bitte sagt mir wenn euch etwas auffällt was ihr nicht gut findet - an mir, an unserer Ehe, an unserer Erziehung, an meinem Umgang mit anderen...ich habe so viele blinde Flecken!" Ich hoffe dabei innerlich natürlich, dass ihnen NIE etwas auffallen wird! Doch da fing der ehrliche Freund gleich an: "Ja, Christina, jetzt wo du das so sagst, da gibt es tatsächlich etwas... " Und dann sagte er eine Sache bei der ich nur zustimmend nicken konnte. Du hast ja soo recht! Daran will ich arbeiten! Ich war dankbar und gleichzeitig wollte ich mir die Ohren zuhalten. Kritik anzunehmen fällt mir ehrlich so schwer! Aber ich will es lernen. Ich weiß: Ich brauche das! Und ich glaube wir alle brauchen (gut ausgewählte!) Menschen, deren Urteil wir vertrauen und die uns Dinge rückmelden dürfen, die nicht so toll sind. Gerade in einer Zeit in der wir uns ungern von jemand anderem sagen lassen was wir zu tun haben (am Sonntag in der Predigt gehört: Derzeit bestes frommes Totschlagargument: "Vielleicht hast du ja recht aber das ist für mich gerade nicht dran!;-)"). 
 

Will ich, dass Menschen Jesus lieben oder dass sie MICH toll finden?

Mein erster Gedanke dazu ist: Natürlich will ich, dass sie Jesus lieben! Und natürlich will ich, dass sie mich toll finden!  Und ehrlich gesagt drehen sich meine Gedanken so viel mehr viel um letzteres. Heute morgen habe ich gelesen was Paulus über Timotheus schreibt: 

Ich kenne keinen der so aufrichtig wie er um euch besorgt ist. Alle anderen sind nur auf sich selbst bedacht und nicht auf das was Jesus wichtig ist. Aber ihr wisst ja, wie Timotheus sich bewährt hat. (Phil.2,20)

Mich trifft dieser Satz ins Herz. Und ich will mich bewähren - mit Gottes Hilfe! - als ein Mensch, der auf das bedacht ist, was Jesus wichtig ist. Und ich will aufrichtig um andere besorgt sein. Nicht als ein Weg in die ungesunde Selbstlosigkeit (weil zu den Dingen die Jesus wichtig sind auch gehört, dass er mir Freiheit und Leben in Fülle geben will!). Aber ich will weg vom ungesunden Kreisen um mich selbst. Und so wie ich Freiheit und Heil von Jesus für mich annehmen, wie ich das auch an andere Menschen in meiner Umgebung weitergebe. 
Und auch das: Ich will Menschen nicht an mich binden, sondern - wie Bonhoeffer sagte: Zwischen uns steht immer der Gekreuzigte! Und wenn ich fallen sollte, oder wenn ich mit meinem Stolpern andere verletze -  dann hoffe ich, der andere schaut auf Jesus. Und geht weiter.


Bitte ich um Verzeihung, wenn ich etwas falsch gemacht habe?

Auch das fällt mich schwer. Besonders wenn es um Menschen geht, die außerhalb meiner Familie sind (bei denen habe ich Übung - da muss ich mich ständig entschuldigen!). Aber wenn ich merke, dass ich bei jemand anderem durch mein Verhalten Unheil angerichtet habe, dann hoffe ich immer sehr, dass es damit getan ist, dass ich bei Gott um Vergebung bitte. Meistens ist das auch in Ordnung, Gott lächelt mir gnädig zu und ich habe wieder inneren Frieden. Aber ab und zu stellt sich der Friede nicht ein. Dann nagt mein Verhalten an mir. Und ich spüre: die Beziehung zum anderen ist belastet. Dann weiß ich: jetzt muss ich zum Telefonhörer greifen und mich so ganz in echt entschuldigen. Erst heute ging mir das so. Der Anlauf dazu ist nicht einfach. Ich empfinde das immer als sehr beschämend. Aber das Gefühl danach ist so wunderbar befreiend! Wie ein froher Neuanfang! Und es ist eine gute Erinnerung für mich: Ich bin Mensch. Ich mache Dinge falsch. Ständig. Ich muss mich nicht dafür verurteilen. Aber ich kann mich entschuldigen. Und ich will sensibel für Gottes Reden bleiben.  

 

Brauche ich Marianne?

Zur Erklärung: So heisst meine Seelsorgerin. Ich habe sie schon länger nicht mehr gesehen, aber wenn es brenzlig wird, dann habe ich ihre Nummer.  Wenn mich alte Gewohnheiten wieder plagen, wenn zu oft alte Pornos in meinem Kopf abgespielt werden, wenn sich die Esstörung zurückmeldet, wenn mich eine ungesunde Beziehung plagt oder wenn ich in einer anderen Sache, die meine Seele verletzt hat Hilfe brauche - dann habe ich ihre Nummer. Und das ist so eine gute Sache! Wenn ich nämlich allein bleibe mit meinen Wunden und Dreck rein kommt, kann das gefährlich werden. Für mich und für andere. Ach, ich wünsche wirklich jedem Menschen eine "Marianne" in der Hinterhand. Ein Mensch, dem man sein ganzes Dunkel und allen Schmerz anvertrauen kann ohne verurteilt zu werden. Eine Seelsorgerin oder Therapeutin, die ein hilfreiches Wort hat und einen Weg durchs Dunkel zeigen kann. 


Es gibt sicher noch mehr gute Fragen. Über die Art wie (Gemeinde)Systeme funktionieren, zum Beispiel. Oder was zu viel Macht mit uns Menschen macht. Aber für mich ganz persönlich sind diese vier die Wichtigsten. Auch wenn es mir schwerfällt: Ich will diese Dinge einüben. Und sollte ich irgendwann einmal etwas Größeres - vielleicht sogar in aller Öffentlichkeit! - falsch machen, dann hoffe ich sehr, dass folgendes passiert:

Meine Freunde machen mich darauf aufmerksam.

Ich bin weniger besorgt um meinen guten Ruf als um die Menschen, denen ich Schaden zugefügt habe.

Ich bitte um Verzeihung.

Ich rufe Marianne an.

 


Donnerstag, 18. Mai 2023

Wie der Himmel noch so ist....

Heute ist Himmelfahrt. Der Tag an dem wir und daran erinnern, dass Jesus wieder Zuhause ankam. Eben beim Frühstück haben wir uns darüber unterhalten, was das wohl für ein gewaltiger Moment war: Der zurückkehrende Sohn mit Narben an Händen und Füßen. Ein entgegenlaufender Vater. Myraden von Engeln, die Spailer stehen und auf die Knie gehen. Das Lamm Gottes, das gekrönt wird und den Platz auf dem Thron einnimmt. Wenn es einmal eine himmlische Mediathek gibt (worauf ich hoffe!), wird das bestimmt einer der meistgestreamten Filme sein. Ich werde ihn mir wieder und wieder anschauen und dabei glücklich die Hand von Jesus halten.

Als Jesus nach Hause ging, ließ er die Tür offen stehen!, schreibt Max Lucado (Danke Sarah, für diese Erinnerung!). Was für ein toller Gedanke. Und wie gut, dass er uns mit seiner heiligen Gegenwart beschenkt hat, die uns auf dem Heimweg begleitet. 

Draußen ist mein Lieblingswetter. Windig. Hohes Gras weht unter blank geputztem Himmel. Ach ja, der Himmel. In Annes Buch über die Festtage des Jahres lese ich, dass sie sich als Familie an Himmelfahrt ein bisschen Zeit nehmen darüber nachzudenken, wie dieses Himmelreich wohl aussieht. Dass sie dann am liebsten mit Freunden und Schokokuchen  loszieht (beides erinnert an den Himmel!), um ein paar Dinge zu entdecken, die uns daran erinnern, wie der Himmel wohl noch so ist: Wie das Lachen von Kindern. Ein plötzlicher Regenschauer. Wie Erdbeeren und Limonade. Wie das Umarmtwerden von einem Vater, der einen bedingungslos liebt. (Anne Gorges)  

Was für eine schöne Idee! Was für ein guter Tag, um nach draußen zu gehen. 

Oder (als Alternativprogramm bei schlechtem Wetter) zum Flughafen zu fahren.   Menschen beobachten. Wie sie voller Vorfreude, mit strahlenden Augen und Blumen in der Hand am Gate warten. Und dann der Moment, wenn sich das Tor öffnet. Wenn ein unterdrückter Jubelschrei durch die Halle geht und  geliebten Menschen einander entgegenfliegen. Wenn das Lachen und Umarmen und "lass dich anschauen" gar kein Ende finden will. Wenn dann irgendwann, die Tränen abgewischt werden, die Tasche mit den Souvenirs vorsichtig auf den Gepäckwagen gestellt wird und man Richtung Ausgang eilt. Dorthin wo die Tür offen steht. Und der Tisch gedeckt ist. Und all die geliebten Menschen warten, damit die Party endlich losgehen kann.

Ach ja, heute ist ein guter Tag, um an den Himmel zu denken.




Dienstag, 2. Mai 2023

Mit Büchertasche auf dem Heimweg

Ich liebe Bücher! Wenn du uns besuchen kommst ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ich dir kurz vor dem Verabschieden noch schnell ein gutes Buch in die Tasche schiebe. Heio findet, dass ich das unseren Gästen aufdränge. Aber ich kann einfach nicht anders. Deshalb gefällt mir auch die Kindheitserinnerung des Dichters Dyles Thomas, in der er von einer Nachbarin erzählt, deren Hausbrand von tapferen Feuerwehrleuten gelöscht wurde und sie den rußgeschwärzen Männern erleichtert das anbietet, was für sie zum Schönsten gehört: "Möchten Sie vielleicht noch etwas zum Lesen mitnehmen?" Ich verstehe diese Frau so gut.  Was für eine Freude ist es doch, ein gutes Buch auf dem Nachttisch liegen zu haben!  Das hat auch mein Kind schon verstanden:
 
jeden Abend legt er sich einen Stapel Bücher bereit!

 
Geschichten erzählen und erzählt bekommen ist der Herzschlag von uns Menschen, schreibt Jefferson Bethke in to hell with the hustle. Gute Geschichten und Worte haben die Kraft zu trösten und etwas in uns zusammenzufügen und uns mutig zu machen fürs Leben. Und auch das:
 

 
Und manchmal lese ich etwas, von dem ich merke: Genau auf diese Worte habe ich gewartet! Das ist mir vor ein paar Tagen passiert, als ich ein altes Buch aus dem Regal zog: Eine Biographie über einen meiner Lieblingsschriftsteller Henri Nouwen. Wie oft haben mich die ehrlichen Worte dieses Priesters und Seelsorgers  schon getröstet! Vielleicht weil es so ist, wie ein Freund über ihn schrieb: Er hat immer über die Dinge geschrieben, die er selbst erfahren hat.
Was mich nun so getröstet hat, waren seine Worte über das Älterwerden. Und jetzt dränge ich sie euch einfach auf und gebe sie euch zum Lesen mit.  Vor allem denjenigen unter euch, die es gerade ähnlich erleben wie ich, dass mit den Jahren auch die Verzagtheit zunehmen kann. Wenn ich alte Menschen in meinem Umfeld betrachte dann denke ich, dass man fürs Alter doch sehr viel Tapferkeit braucht. Und ich bezweifle, dass ich besonders viel davon in mir habe. Als ich neulich ein Buch über die Wechseljahre gelesen habe, war ich danach total entmutigt und dachte, dass um die Ecke die schlimmsten Erkrankungen warten und das gute Leben nun endgültig vorbei ist. Das können Bücher leider auch: Angst machen und dunkle Schatten in deine Träume werfen! Dann sollte man sie schnellstmöglich aus der Hand legen. Und gute Worte dagegenhalten. Wie diese:
Man kann das Älterwerden erfahren als einen Weg in die Finsternis oder als einen Weg ins Licht. Bei viele alten Leuten können wir beobachten, dass sie ganz in der Vergangenheit eingeschlossen sind. "Ich bin der ich war." Sie haben die innersten Kammern ihres Heiligtums geöffnet und die bösen Mächte davon Besitz ergreifen lassen.
Man kann aber auch einen anderen Weg einschlagen, den Weg zum Licht hin. Dieser Weg nimmt bereits in der Mitte des Lebens Form an. Es ist ein Weg von einem Leben voller Wünsche hin zu einem Leben, das sich auf Hoffnung ausrichtet. Wünsche sind gekoppelt an konkrete Objekte. Hoffnung gibt Aussicht und baut auf das Vertrauen, dass ein anderer seine Versprechen wahr macht. 
aus: Henri Nouwen. Sein Leben - sein Glaube, von Jurjen Beumer
Von dieser Hoffnung handeln viele von Nouwens Texten. Sie ist ein Halt, den ich nicht in mir selbst suche und den ich auch nicht von anderen erwarten kann. Es sind die geöffneten Hände, die ich Jesus entgegenstrecke. Und diese Hoffnung kann tatsächlich mit den Jahren mehr Raum in uns einnehmen. Sie macht etwas in uns heller. Und reicher. Und freier. Und schöner. Nouwen, der fasziniert von den Gemälden Rembrandts war, schreibt über den Maler: 
Rembrandts schönste Portraits sind zum größten Teil Portraits von alten Menschen. Seine treffendsten Selbstportraits malte er in seinen letzten Lebensjahren... Je mehr er sich den Schatten des Alters näherte, sein Erfolg abnahm und der äußere Glanz seines Lebens verblich, um so mehr kam er in Berührung mit der unermesslichen Schönheit des inneren Lebens.
Ich muß dabei an meine Oma denken. Sie war nämlich genau so ein Mensch. Voll unermesslicher Schönheit des inneren Lebens. Ihr kennt sicher auch so jemand. Ich will mir solche Menschen vor Augen halten. Und solche Worte. Beides macht mir Mut, in meiner (schon etwas überschrittenen) Lebensmitte, innerlich diesen Weg ins Licht einzuschlagen. Ich will lernen einer Kultur zu widersprechen, die sich gegen das Älterwerden wehrt, wie gegen eine Krankheit, die man möglichst lange hinauszögern muss und die uns makellose, ewige Jugend als Ideal vor Augen hält. Als Kinder Gottes haben wir eine ganz andere Perspektive: Wir sind nicht die, die wir waren - wir sind die, die wir sein werden.  Mit wachsender Hoffnung - und  in meinem Fall: mit großer Büchertasche! -  sind wir auf unserem Heimweg.