Mittwoch, 8. Februar 2023

Ungeschminkt

Heute würde ich am liebsten nicht vor die Tür gehen. Nicht weil ich ungeschminkt bin (das bin ich fast immer!) - sondern weil ich mich den Menschen in meinem Gesamtpaket nicht zumuten möchte. An so einem Tag sollte ich auch besser nicht schreiben. Aber weil Blog schreiben auf meinem Tagesplan steht und vor mir mein Jahreswort "Echtzeit" in der Sonne leuchtet, teile ich einfach meine Echtzeit mit euch. Hier ist mein heutiges Gesamtpaket, ganz ungeschminkt:

Die Welt schmerzt. Ich schreibe das an die erste Stelle, nicht weil es in mir an erster Stelle ist - aber weil ich will, dass es hierher gehört. Weil ich es beschissen finde, über meine kleinen Dinge zu jammern, während da draußen die Welt an allen Ecken brennt. Weil gerade, während ich hier friedlich am Computer sitze, Menschen in Bunker fliehen oder mit bloßen Händen nach ihren Kindern graben, die unter Erdbebentrümmern verschüttet liegen. Wie viel Leid kann ein Mensch aushalten? Wie viele Katastrophen kann ein Volk ertragen?

Meine Hände schmerzen. Schon beim Schreiben werde ich kleinlaut. Weil es sich so belanglos anfühlt. Aber es ist so. Gehört heute zum Gesamtpaket. "Arthrose im fortgeschrittenen Stadium" sagte der Arzt. Ich fühle mich alt. Sage schon zu Heio: "Wer weiß wie lange ich noch schreiben kann. Aber eigentlich habe ich ja auch alles Wichtige schon gesagt." Auch dieser Fatalismus gehört heute dazu.

Es irritiert mich gerade sehr, dass mein Körper alt wird. Ich weiß, es ist der Lauf der Dinge. Aber irgendetwas in mir ist total überrascht darüber, wenn ich mich - so ganz ungeschminkt! - im Spiegel betrachte. Die Wechseljahre bringen neben Schlafstörungen und  Hitzewellen (letzteres sehr energiesparend!) auch verwirrende Gefühle. Ich bin mir nicht sicher was diese Lebenszeit mit mir macht. Spüre nur, dass ich etwas zurücklasse. Weiß nicht was ich stattdessen in die Hände gedrückt bekomme. Die Soziologin Brene Brown sagt, dass die Superpower der zweiten Lebenshälfte darin liegt, neugierig zu sein. Ist das so? Offen zu sein. Neues entdecken. Neues denken. Und vielleicht auch: Gespannt bleiben, was da noch kommt. Ob da noch was kommt?

Eine andere irritierende Wahrheit: Wir schaffen dieses Leben nicht alleine. Das klingt schön. Solange es nicht praktisch für mich wird.  Heio hat damit überhaupt keine Probleme. Er fragt ständig um Hilfe, wenn wir Hilfe brauchen (was ja auch irgendwie eine gesunde Sache ist!). Ich halte ihn dabei ängstlich am Ärmel fest und sage:" Lass doch erstmal auf Youtube schauen ob wir das nicht selbst hinbekommen". Oder: "Komm, wir organisieren alles um, dann müssen wir nicht um Hilfe bitten." Irgendetwas daran, dass ich andere Menschen brauche, erfüllt mich mit Scham. Und gleichzeitig weiß ich, dass es der Weg zu mehr echter Nähe ist. Neulich habe ich diesen Ausdruck gehört: Anderen die Gnade schenken, gebraucht zu werden. Ich fürchte, dass ich sehr schlecht darin bin, diese Gnade zu verschenken. Aber es ist vielleicht auch eine Superpower die man in der zweiten Lebenshälfte lernen kann.

Unser Kind braucht mich weniger. Logisch, könnte man sagen. Es ist schließlich das Ziel auf das man als Eltern hinarbeitet.  Trotzdem bin ich auch hier überrascht. Vielleicht weil sich  bei unserem Kind Entwicklungen meist nicht vorsichtig andeuten, sondern sie kommen einfach über Nacht. Gestern hat er noch fröhlich mit seinen Playmobilautos gespielt, ab heute werden sie nicht mehr beachtet. Gestern wollte er noch wissen was WIR nachmittags zusammen machen, heute will er nur noch wissen wann er zu seinen Freunden darf. So sehr ich mich auch über die neue Entwicklung freue  - für das Kind und für mich! - irgendwie muss ich auch erstmal damit klarkommen. Damit, dass mein Kind andere Kinder so sehr braucht und auch damit, dass er mir diese Gnade nun immer weniger schenken wird. Gestern habe ich wehmütig die Fotos aus der Kleinkindphase angeschaut. Genießt es ihr Lieben, es geht so schnell vorbei! (jetzt wisst ihr was ich mit dem Älterwerden meine:-)).

Und während ich hier so sitze und schreiben kann und die Sonne auf mein Gesicht scheint und mich nun doch nach draußen lockt, regt sich auch die Dankbarkeit in mir (Dankbarkeit ist definitiv eine Wunderwaffe der zweiten Lebenshälfte!). Bei allem was heute schmerzt und unsortiert ist und was sich gerade verändert: Ich bin auch dankbar. Für das Jetzt und Hier. Für den weiten Himmel über mir und den gefrorenen Boden unter den Füßen, in dem sich schon das neue Leben regt, für die nächste Jahreszeit.

  


2 Kommentare:

  1. Tina schreibt: Und doch dürfen wir auch die persönlichen Nöte in unserer kleinen Welt ernst nehmen! Und dazu dankbar sein, dass wir es neben diesen auch gut haben. Und nicht allein sind. Und ich will damit rechnen, dass meine Gebete für andere von Jesus erhört werden!

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  2. Danke für Dein Schreiben! Es erfüllt mich gerade in Echtzeit (:

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