Mittwoch, 6. Juli 2022

Verliebt in die Welt

Zurzeit träume ich wieder öfters von meinem Elternhaus. Ich bin immer noch dabei die Tatsache zu verarbeiten, dass ich diese vertrauten Räume nie wieder betreten werde. Gestern habe ich zu Heio gesagt: "Es ist doch nicht zu fassen, dass man ein Haus so vermissen kann!" Aber vielleicht ist es ein klein wenig so, wie das mit unserem Körper ist, der unserer Seele ein Zuhause gibt (my soul`s address - wie es Barbara Brown Taylor so treffend ausdrückt). Dieses alte Schindelhaus im Schwarzwald war meine Heimatadresse auf dieser Welt - so vergänglich und dem Zerfall ausgesetzt, wie unsere Körper das auch sind. Und doch hält all das Vergängliche so viel Schönheit. So viel gute Geschichten. Gerade das unperfekte. Die Macken. Das "Abgelebte".... Manchmal ist da fast ein körperlicher Schmerz in mir, wenn ich an die die gichtgeschwollenen Hände meiner Mutter denke, über die ich so gerne noch einmal streicheln würde. Und diese kleine Narbe in dem Handballen meines Vaters, die ich ihm als übermütig beißendes Kleinkind zugefügt habe und die Stelle zwischen Socken und Hosenbein in der seine weißen Beine geleuchtet haben....Es ist nicht nur die Seele und die inneren Werte, sondern es ist auch das vertraute Äußere, das man am Ende vermisst. Das Anfassbare.  Die kleinen Gesten. Die Gerüche. Der weiche Stoff der Lieblingskleidung. Haptik der Liebe. Vielleicht vermisse ich auf diese Weise mein Heimathaus. Es war wie der feste weiche Einband, der meine Geschichte zusammengehalten hat. Und wie dankbar bin ich, dass ich so einen Ort so lange Zeit meines Lebens haben durfte! 
Aus der Wohnung unter mir dringt der Singsang eines Muezzins, der zum Gebet ruft. Die junge syrische Mama, die eben ihr Kind in die Kita gebracht hat, hat ihre Anlage laut aufgedreht. Für mich klingt es nach Heimweh. Und ich weiß, dass sie ihr Zuhause, das sie schon so früh in ihrem Leben durch den Krieg verlassen musste, sehr vermisst. Wie viele Umarmungen, Gerüche und Gesten wohl in ihrem Alltag schmerzlich fehlen...

Jetzt leben wir gemeinsam hier. An diesem Ort. Heimathaus unserer Kinder. Und als ich gestern mit Samuel zu seinem Fußballtraining zum Nachbarort geradelt bin hat mich wieder einmal die Schönheit überwältigt. Ich konnte nicht anders als begeistert in den Fahrtwind zu rufen: ´"Oh wie schön! Schaus' dir an Samu: Wie schön!!!" Ein frisch gemähtes Weizenfeld leuchtete im herrlichsten Naturblond! So eine Farbmischung sollte es mal beim Drogeriemarkt geben! Nicht Hollywoodblond und auch kein Oslo-Aschblond sondern ein Sachsenweiler-Weizenfeldblond!  Was für eine herrlich warm leuchtende Farbe! Beim Betrachten fiel mir der wunderbare Satz des Bilderbuchautors Maurice Sendak ein:

Während ich älter und älter werde, wird mir klar, dass ich in die Welt verliebt bin.
Und ich spüre was er meint. Mit den Jahren verliebe ich mich auch immer mehr in diese Welt. In die Gerüche und die Farben. In die Art und Weise wie der Wind über die Gräser streicht und wie die Sonne mein Gesicht aufwärmt. In die Geräusche des Sommerregens und der Wellen am Strand (oh wie freue ich mich auf das Meeresrauschen, das wir diesen Sommer hören werden!). In den Geschmack einer süßen, kalten Wassermelone an einem Sommerabend. In das Abendlicht, das die kleinsten Dinge zum Leuchten bringt und die fliegenden Wolken und die alten Bäume und die Graureiher ...Ich bin in diese Welt verliebt!  Und was man liebt muss man mit Freude und Zärtlichkeit betrachten. Das will ich tun. Den ganzen Sommer lang. Mit zunehmenden Macken und Narben und Körperfülle will ich mich an der Fülle dieser ganzen wunderbaren Vergänglichkeit dieser Welt freuen. 

John Green schreibt in seinem Buch mit dem schrägen Titel Wie hat ihnen das Anthropozön bis jetzt gefallen (musste erstmal Anthropozön googlen:-)):

Ich hab mein ganzen bisheriges Leben gebraucht, um mich in diese Welt zu verlieben, aber seit ein paar Jahren kann ich es spüren. Wenn man sich in die Welt verliebt, heißt das nicht, das man über die Leiden hinwegsieht. Sich in die Welt zu verlieben bedeutet für mich, zum Nachthimmel aufzublicken und zu spüren, wie der Verstand angesichts der Schönheit und Ferne der Sterne ins Schwimmen gerät. Es bedeutet unsere Kinder an uns zu drücken, wenn sie weinen, oder zuzusehen, wenn im Juni die Plantanen austreiben. ...Wir alle wissen, wie Liebe endet. Ich möchte mich aber trotzdem in die Welt verlieben, möchte, dass sie meine Schale aufbricht. Solange ich hier bin möchte ich alles spüren, was es zu spüren gibt.

Ich will meine Schale aufbrechen lassen. Jeden Tag neu.

Auch wenn ich weiß, dass es mit dem Loslassen endet.

Aber so lange ich hier bin möchte ich mich immer weiter verlieben.

In unsere Welt.

Heimatadresse für den vergänglichen Teil unseres Lebens.

Schaus' dir an! Wie schön!!!

 










 

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